Ich hoffe,
mit meiner Reflektion darzustellen, dass dieser Einladung eine inhaltliche
Unwahrheit innewohnt: Ist nicht die politische, weltanschauliche, pädagogische
Sichtweise selbstverständlich entscheidend? Beruht der gewünschte Konsens denn
nicht auf der unwidersprüchlichen Ansicht, derzufolge der junge Mensch als
Objekt betrachtet wird – ein Objekt, das es zu erziehen gilt und über dessen
Bildung jemand anders zu entscheiden hat? Kann man es anders als
„weltanschaulich“ nennen, dass Menschen aufgrund ihres
Alters bzw. ihrer Jugend und eines damit verbundenen Status‘ als
„minderjähriges Kind“ es nicht wert sein sollen, dass man ihre Rechte vertritt – und eben nicht die Rechte derjenigen, die für sie entscheiden oder gar über sie bestimmen wollen? Und warum soll
überdies die pädagogische Sichtweise unwichtig sein? Ist es etwa nicht von
Bedeutung, dass gewisse pädagogische Maßnahmen auch dann die Würde des Kindes
verletzen und der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit mehr ab- als
zuträglich sind, wenn Eltern und nicht der Staat diese anwenden?
Da suggeriert wird, niemand, der nicht den entsprechenden Konsens vertritt,
wolle sich in den „Prozess der
Bildungsfreiheit“ einbringen – und schon gar nicht konstruktiv – erscheint es mir hier dringend notwendig, einmal ganz
klar auf eine wesentliche begriffliche und damit verbundene inhaltliche Unterscheidung
hinzuweisen: Da das Anliegen, sich für „Bildungsfreiheit“ zu engagieren, im
Zuge der GHEC nun auf eine ganz bestimmte Weise definiert wurde, ist dieses unbedingt
zu unterscheiden von dem, sich für das „Grundrecht des Menschen, sich frei zu
bilden“ einzusetzen (im Grunde war dies schon immer so, aber nun ist Anlass
genug, dies noch einmal deutlich klarzustellen). Bei beiden Anliegen spielen
die Eltern eine entscheidende, aber
völlig unterschiedliche Rolle. Ist es nicht ein gewaltiger Unterschied, ob
Eltern auf ihrem eigenen Recht als Eltern pochen oder ob sie sich für den
Schutz der Grundrechte ihrer Töchter und Söhne einsetzen? Das Ansinnen, sich
Respekt zu verschaffen vor der eigenen Freiheit, als Eltern nach den eigenen
religiösen, moralischen, philosophischen und pädagogischen Anschauungen zu
handeln, ist ein grundlegend anderes, als sich dafür einzusetzen, dass die
wahren Interessen und Bedürfnisse des Kindes respektiert werden.
Was war das Anliegen der Konferenz?
Dagmar Neubronner schrieb vor der GHEC: „Der
Konflikt, um den es bei unserer Konferenz geht ist: Liegen die Rechte und
Pflichten für den Schutz von Kindern, bis sie ihre Rechte selbst wahrnehmen
können, in der Familie, also (schon rein rechtlich gesehen) bei den Eltern -
ODER BEIM STAAT???“ (1)
Mir stellt sich unweigerlich die
Frage: Schutz von Kindern – vor was oder
vor wem? Die Familie will offensichtlich
die Kinder vor dem Staat schützen, der Staat hingegen will sie vor der Familie
schützen! Da kann ich doch nur sagen: herzlichen Glückwunsch zu dieser
Pattsituation! Immerhin sind sich beide Parteien in einem Punkt einig: Kinder
können ihre Rechte nicht selbst wahrnehmen! Bedauerlicherweise kommen weder
Eltern noch Staat auf die Idee, dass hier im Falle der Kinder deren Grundrechte
und nicht sie selbst geschützt werden müssen(2) – obwohl es geradezu
eine „heilige Verpflichtung“ des freiheitlich-demokratischen Staates ist, diese
Grundrechte gesetzlich zu schützen…
Was geschieht stattdessen? Laut
Dagmar Neubronner Folgendes:
„Denn
DAS ist die große Bedrohung und Gefahr - der Staat fordert immer vehementer die
‚Lufthoheit über den Kinderbetten‘. Wenn wir diese Tendenz weiter zulassen,
dann werden unsere Kinder in Zukunft nicht mehr (sehr unterschiedlichen, aber
ganz überwiegend wohlmeinenden und liebevollen) Eltern zugeordnet sein, sondern
einer bürokratischen Maschinerie. DAS zu verhindern bzw. den bereits in Form
des Schulzwangs bestehenden Zugriff auch in Deutschland endlich zu lockern, ist
das Anliegen der Konferenz.“
Wie ist diese Aussage nun zu
verstehen? Ich habe dazu zweierlei Ideen:
1. Wenn der Staat entgegen seiner
Verpflichtung, die Grundrechte aller Menschen zu schützen, sich ihrer quasi zu
bemächtigen und sie einer bürokratischen Maschinerie zu unterwerfen versucht, so
sollte dies verhindert werden. Nun würde ich Dagmar Neubronner an dieser Stelle
gern fragen: War es das, was Ihr wolltet und stimmt das, was Ihr getan habt,
damit überein? Habt Ihr Euch als Eltern dafür eingesetzt, dass die Grundrechte
Eurer Kinder geschützt werden bzw. habt Ihr Euch gegen die Missachtung der
Grundrechte Eurer Kinder ausgesprochen?
2. Oder war vielleicht das
entscheidende Anliegen, sich die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ nicht
nehmen zu lassen, sich also das Vorrecht auf Erziehung und Bildung der Kinder
zurück zu erobern? Ging es somit um einen Machtkampf um die Erziehungs- bzw.
Bildungsherrschaft? Auch hier möchte ich wieder die Frage stellen: Stimmt das
Ergebnis der GHEC mit diesem Ziel überein?
Schauen wir uns das Ergebnis der
GHEC 2012 an: Eine im Namen aller Teilnehmenden ausgesprochene Resolution, “The Berlin Declaration, the first of its
kind”(3), wie es im „The New American“(4) heißt
(übrigens nicht zu verwechseln mit der – vielleicht unbekannten, vielleicht
vergessenen – „Berlin Declaration of
Freedom in Education“ aus dem Jahre 2008(5)). Auf zwei der darin
beschlossenen sechs Punkte(6) möchte ich kurz eingehen:
„Wherefore
we now,
(…) 2.
Urge all members of the international community to take concrete steps to
affirm in their law, policy, and civil and criminal procedures that parents
have a natural and fundamental right to direct the education and upbringing of
their children which includes the right to choose the type of education their
child shall receive including home education”
War das Ziel der GHEC nun Bildungsfreiheit oder Erziehungsfreiheit? Könnte der in den
Vordergrund gerückte Anspruch auf freie Bildung nicht als Alibi für die
elterliche Erziehungsmacht missbraucht werden? Ich bin gespannt, wie die
offizielle deutsche Übersetzung von „home
education“ lauten wird, da dieser Begriff gar nicht eindeutig übersetzt
werden kann. Meines Erachtens ist es an sich nicht entscheidend, wie dieser Begriff nun definiert wird
(ob als „Bildung zu Hause“, „Freilernen“, „Hausunterricht“, „Homeschooling“,
„Unschooling“, „schulfreies Lernen“ oder sonstwie), sondern wer ihn definiert! Die zitierte Forderung
in der „Berlin Declaration“ macht nicht nur deutlich, dass hier die Eltern die
Definitionsmacht für sich beanspruchen; unverkennbar ist hier auch, dass Kinder
unhinterfragt als Objekte angesehen werden, denen eine von Eltern gelenkte,
geleitete, angeordnete Bildung und Erziehung zuteilwerden soll. Ist dies nun im
Sinne der Grundrechte ihrer Kinder? Ganz sicher doch nicht, denn ist es nicht
gegen die Würde eines jeden Menschen, zum Erziehungsobjekt degradiert zu
werden?
“5.
Request the global home education community take active steps to communicate
this resolution to their governments and to take all steps necessary to
recognize the right of families to home education as a non-derogable and
fundamental human right regardless of the motivation or methodology of those
who chose it“
Wie ist das nun zu verstehen? Das Recht von „Familien“ auf „home
education“ soll anerkannt werden „als
ein nicht einzuschränkendes und grundsätzliches Menschenrecht, ungeachtet der
Motivation oder Methode derer, die diese (Form der Bildung) gewählt haben“?
Eine Familie besteht aus mehreren Personen, deren Interessen und
Grundbedürfnisse grundverschieden sein können. Wessen Interesse soll denn im
Vordergrund stehen? Wessen Bedürfnisse sollen erfüllt werden? Auf diese Fragen
hatte Dagmar ja schon vor der GHEC eine Antwort:
„Wie die Verantwortlichkeiten innerhalb
der Familie verteilt sein sollen, wie jeder von uns mit Kindern leben will,
darüber können wir uns austauschen, diskutieren, streiten, wenn gesichert ist,
dass wir als Eltern überhaupt die Möglichkeit haben, Entscheidungen zu treffen,
z.B. unsere Kinder demokratisch-selbstbestimmt, vegan, unerzogen, schulfrei,
wie-auch-immer leben zu lassen.“
Beim
Lesen dieser Aussage musste ich echt schlucken! Ist die Degradierung des Kindes
zum Erziehungsobjekt, dessen Wohlergehen davon abhängig sein soll, wie
wohlmeinend und liebevoll es nun leben gelassen
wird, weniger entwürdigend, wenn sie durch Eltern erfolgt statt durch einen
übergriffigen Staat? Nebenbei bemerkt ist wohlmeinend nicht unbedingt wohltuend,
und die Tatsache, dass Eltern sich als liebevoll empfinden, bedeutet nicht
unbedingt, dass die Kinder sie auch als liebevoll wahrnehmen. Wer hat das Recht
zu entscheiden, was er oder sie essen will? Wer soll entscheiden dürfen, ob er
oder sie in die Schule gehen will? Sollen Eltern ihr Kind auch gegen dessen
Willen einer häuslichen Beschulung unterziehen dürfen?
Mich beunruhigt in besonderem Maße
die Erkenntnis, dass hier anscheinend im Sinne eines Wunsches nach Konsens entscheidende menschliche und
freiheitlich-demokratische Werte über den Haufen geworfen wurden und werden.
„Es
geht darum, die Kinder vor dem Zugriff einer überbordenden
Institutionalisierung und Verplanung durch den Staat zu bewahren, und für
dieses Ziel arbeite ich mit allen Menschen zusammen, die dasselbe Ziel haben“,
schrieb Dagmar Neubronner in ihrer Stellungnahme.
Und ist die GHEC ihrem Ziel näher
gekommen? Hat sie die konkrete, unmissverständliche und kompromisslose Forderung
aufgestellt, dass jegliche Übergriffe auf die Würde und die Freiheit des jungen
Menschen vom Staat zu unterlassen sind? Habt Ihr den Staat vielmehr daran
erinnert, dass er eben diese gesetzlich verankerten Menschenrechte (die als Abwehrrechte
den Menschen vor eben solchen Übergriffen schützen sollen) bedingungslos zu
schützen sich verpflichtet hat? Oder habt Ihr im Sinne eines Konsens das eigentliche Anliegen – und
ich bezweifle, dass dieses je wirklich bestanden hat – geopfert, nämlich den
Respekt vor der Würde Eurer Kinder zu fordern? Geopfert für was? Für ein
Ansinnen, welches – aus leidiger Erfahrung – bedauerlicherweise zum Scheitern
verurteilt ist! Warum soll man versuchen, mit dem Kopf durch die Wand zu
laufen, wenn daneben die Tür ist (auch wenn dies mit mehreren Menschen gemeinsam
vielleicht nicht ganz so einsam ist)?
Für Elternrechte zu kämpfen ist
schon allein aus dem Grunde zum Scheitern verurteilt, weil es aus einer
Opferrolle heraus geschieht. Könnte die GHEC den Rahmen geboten haben, diese
Opferrolle zu zelebrieren? Zumindest erscheint es so, wenn man dem „The New
American“ Glauben schenken mag(7). Sich als Opfer zu fühlen ist schon
deshalb nicht ratsam, weil die damit verbundenen Ängste und Gefühle von
Hilflosigkeit die Sicht auf gewisse Tatsachen komplett vernebeln und den Fokus
auf das, worum es eigentlich gehen sollte, unmöglich machen. Dagmar Neubronners
Kommentar zeigt dies mehr als deutlich:
„Auch wenn sie ihre Kinder in ganz
anderer Weise erziehen als ich, ihnen ganz andere Werte vermitteln und das
Verhältnis zwischen Eltern und Kindern anders definieren – diese (großen! Da
bin ich völlig mit dir einig!) Unterschiede sind angesichts der wirklich
riesigen Bedrohung durch Staat, EU etc. zweitrangig.“
Nein!!!
Es ist genau umgekehrt! Ein bedrohlicher Staat wird in verhängnisvoller Weise
in den Fokus gerückt, und der eigentlich entscheidende Aspekt als „zweitrangig“
in den Hintergrund geschoben. Denn: Wer ist das eigentlich, „der Staat“? Sind
wir das nicht alle?! Und was soll das heißen, Eltern müssten erst einmal „überhaupt die Möglichkeit haben, Entscheidungen
zu treffen“? Treffen Eltern nicht am laufenden Band Entscheidungen – aber
was für welche? Treffen sie Entscheidungen, die wirklich im Sinne ihrer Kinder sind? Genau genommen ist es sogar
von zentraler Bedeutung, wie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern
definiert ist – und wie überhaupt „Kind“ definiert ist.
In Bezug auf Eltern ist es
berechtigt zu fragen: Können oder vielmehr wollen einstige „Kinder“, welche an
das Konzept einer „Kindheit“ glauben, sich der damit verbundenen Konsequenzen
bewusst sein oder werden? Ein Konzept, welches viele der angeborenen
Kompetenzen des Menschen in seinen ersten Lebensjahren verneint – wie sein von
Natur aus bestehendes Bedürfnis und die Fähigkeit, sich zu bilden – und ihn
daher nicht gleichermaßen als Mensch respektiert und ernstnimmt? Ein Konzept,
welches die als „Kinder“ gehaltenen Menschen in einer regelrechten Unfreiheit
gefangen hält? Daher nochmal die Frage: Können oder wollen Menschen, die an
dieses Konzept glauben, für die (Bildungs-)Freiheit ihrer Kinder eintreten? Und
eine Freiheit wovon soll das sein?
Von einem Beschulungszwang durch den Staat, nicht aber von, wenn nicht Zwang,
so zumindest einer Absicht zur Beschulung und Erziehung durch die Eltern?
Sosehr ich für die Notwendigkeit
einer gesunden Bindung eines Kindes an seine Familie plädiere, sosehr graust es
mir bei dem Gedanken an „Eltern“ (ich spreche hier allgemein von Menschen in
einer Rolle der Eltern oder Funktion als Eltern und möchte damit niemanden im
Speziellen ansprechen oder gar angreifen), wenn ich an die vielen mir begegneten
Eltern denke, die in vehementer, gar brutaler Art und Weise Druck auf ihre
Kinder ausüben, weil für sie deren gute Leistung und Erfolg wichtiger sind als
Glück oder freie Persönlichkeitsentfaltung. Natürlich steckt dahinter meist
Angst und Unsicherheit, gibt es doch unter Eltern eine neuartige „Krankheit“
namens „Bildungspanik“. Verunsicherte Eltern verlassen sich lieber auf so
manche „Experten“ oder hören auf ein in ihrer Angst verwurzeltes
Kontrollbedürfnis. Sie unterziehen ihre Kinder allen möglichen Fördermaßnahmen
oder lassen sie gar medikamentös behandeln – anstatt in die gesunden Reaktionen
ihrer Kinder zu vertrauen und wirklich in ihrem Sinne zu handeln.
Da oft auf die „vorbildlichen“
Länder ohne Schulanwesenheitszwang verwiesen wird, in denen mehr
„Bildungsfreiheit“ herrscht, möchte ich etwas Weiteres in Bezug auf Eltern ergänzen
(abgesehen davon, dass wir uns auch einmal die schulischen Zustände dieser
Länder anschauen könnten): Im diesbezüglich liberalsten Großbritannien
vertraten der Umfrage eines britischen Meinungsforschungsinstituts im Jahre
2011 zufolge 49 Prozent der Eltern die Meinung, an den Schulen solle die
Prügelstrafe wieder eingeführt werden(8). In Österreich gibt es eine
Kindergartenpflicht, mit welcher die meisten Eltern weitestgehend einverstanden
zu sein scheinen! In 19 US-Bundesstaaten ist das Prügeln (mit Paddeln!) an
Schulen legal (allerdings darf es dort „keine Prügelstrafe ohne Einwilligung
der Eltern geben“(9) – der Respekt vor dem Elternrecht ist also in
der Tat höher angesiedelt als bei uns!).
Und hier in Deutschland? Hier
herrschen Bedingungen, unter denen Eltern – aus den verschiedensten Gründen,
die es geben kann – nicht gewillt oder in der Lage sind oder den Mut haben, die
Würde ihrer Kinder zu schützen und im Sinne der Bedürfnisse eben ihrer Kinder
zu handeln(10). Aber ist dies im „Land der Freiheit“ wirklich
anders? Bei der amerikanischen Autorin Grace Llewellyn, welche das von Dagmar Neubronner
in Deutschland herausgegebene „Teenager Befreiungs Handbuch“ geschrieben hat,
finde ich eine beunruhigende Antwort auf die Frage, was genau die
hochgepriesene Errungenschaft „Bildungsfreiheit“ dort bedeutet:
"Die
schwierigsten Briefe (…) stammen von Teenagern, die sich verzweifelt danach
sehnen, die Schule zu verlassen und schon alle Taktiken angewendet haben, die
ich in Kapitel 10 'Das möglicherweise heikle Thema Eltern' angeführt habe, und
deren Eltern ihnen den Schulaustritt dennoch verweigern. Da sich zweifellos
viele Teenager in dieser Lage befinden, macht es mich wütend, dass junge
Menschen nicht mehr rechtliche Kontrolle über ihr Leben haben. Oft erstaunt
mich die Kraft und Kreativität, die aus diesen Briefen spricht und in der sich
die Entschlossenheit der Schreiber widerspiegelt, gesund zu bleiben und sich
weiterzuentwickeln, obwohl sie weiter zur Schule gehen müssen."(11)
Kann es traurig aber wahr sein,
dass junge Menschen im „Land der Bildungsfreiheit“ letztlich genauso wenig frei
sind, ihre Bildung in ihrem eigenen Sinne zu gestalten, wie in unserem Land –
oder wie vielleicht in jedem Land, in dem das Elternrecht auf Erziehung hochgehalten
wird? Aufgrund dieser berechtigten Befürchtung kann ich mich nicht ruhigen
Gewissens dem Appell an den Schutz des Elternrechts als einem
„nichteinzuschränkenden und grundsätzlichen Menschenrecht“ anschließen. Die im
Grundgesetz verankerten Rechte der Person, welche an keine Bedingungen geknüpft
sind, sind bedingungslos zu schützen vor jeglichen Übergriffen, egal von wem
sie kommen.
Ist es nicht so, dass an der
Stelle, an der eine dringend notwendige (und längst überfällige)
Grundsatzdiskussion zum Thema freie Bildung hätte stehen müssen, nun die Global
Home Education Conference 2012 stand, deren Motive uns glauben machten, dass
etwas Grundsätzliches in der Angelegenheit der „Bildungsfreiheit“ – ja, ich
würde sagen, das Wesentliche überhaupt! – nebensächlich und unwichtig sei? Ist
es verwunderlich, dass die Menschen, die genau dieses ansprachen, als frontenschaffende
Unruhestifter angesehen wurden und werden? Dass diejenigen, denen es wirklich
und ohne Umwege und in der Tat kompromisslos um die Person des jungen Menschen
und dessen Recht auf freie Bildung
geht, nun beschuldigt werden, die Lager zu spalten?
„The New American“ zitiert Dagmar Neubronner
folgendermaßen: “’It is very important
that we connect with each other, and don't lose our loyalty to each other, and
not split into groups. This is very, very important.’ The global home education
movement must emphasize what it has in common and support its persecuted
members, she concluded.”(12)
Eine solche Aussage suggeriert, es
gebe Gemeinsamkeiten hinsichtlich der grundsätzlichen Ziele und alle
Unterschiede seien unwichtig und nebensächlich. Sie appelliert an das
Zusammengehörigkeitsgefühl und weckt die Hoffnung, man könne alles erreichen,
aber nur, wenn alle zusammenhalten. Musste es da nicht zwangsläufig zu einer
Spaltung kommen zwischen denen, die sich kritiklos dieser Gruppe anschlossen
und denen, die das nicht taten?
Nachdem
nun die GHEC vorbei ist und die „Berlin Declaration“ im Namen aller
Teilnehmenden verabschiedet wurde, frage ich mich, ob tatsächlich alle, die an
der Konferenz teilnahmen, dieser historischen Verlautbarung zustimmten.
“To start with, the declaration was signed by the entire GHEC board.
However, as the document was unveiled in front of a packed conference room with
close to 200 people from some two dozen countries, GHEC Chairman Himmelstrand
said the goal was to continue gathering signatures and support from
organizations and individuals around the world, using the document to keep the
pressure on hostile governments. The room erupted
in applause.“(13)
Sind
sich also alle einig, es müsse einen Kampf geben zwischen Eltern und Staat und der
richtige Weg sei es, „Druck“ auszuüben? Sind demnach alle Dagmar Neubronners
Aufruf gefolgt?
„In
diesem Sinne: Lasst uns über unsere unterschiedlichen Ansichten über das Leben
mit Kindern gerne diskutieren, aber lasst uns auf der GHEC2012 gemeinsam
einstehen für das Recht der Eltern VOR dem Recht des Staates. Wenn wir diese
Rechte haben, können diejenigen von uns, die das wollen, sie an ihre Kinder
übertragen und sich dafür einsetzen, dass ihre Sichtweise sich verbreitet.“(14)
Ist
hier durch den Wunsch, auf das vermeintlich Gemeinsame zu fokussieren und einen
Konsens zu schaffen, das eigentlich Wichtige aus dem Blick geraten? Wie wesentlich
ist das Recht des Menschen, über seine Bildung selbst zu bestimmen – da es
seine natürliche und angeborene Begabung ist, sich bilden zu wollen und zu
können, jederzeit? Und teilen wirklich alle, die sich für „Bildungsfreiheit“
einsetzen, die Vorstellung, das Menschenrecht sich frei zu bilden stehe Kindern
nur zu, wenn Eltern bereit sind, es ihnen zu übertragen?
Ich
erinnere mich an meine spontane Reaktion, als ich einst von dem Anliegen der
GHEC erfuhr: meine tiefe Erschütterung, die mich dazu bewogen hatte, mich so
kritisch zu äußern. Diese begründete sich durch ganz persönliche Erfahrungen, nicht
zuletzt die Entscheidende für den Beginn meines Engagements für
„Bildungsfreiheit“. Ich war Dagmar Neubronner bisher zutiefst dankbar gewesen,
dass sie das „Teenager Befreiungs Handbuch“ hier in Deutschland herausgegeben
hatte, denn das Lesen dieses Buches öffnete mir Herz und Augen. Ich dachte:
Endlich ein Buch adressiert an diejenige, um die es beim Thema Bildung gehen muss
– die Person selbst! Aber ich kann es eigentlich nicht besser ausdrücken als
die Autorin persönlich in ihrem Vorwort an die Eltern:
„Obwohl mir viele dazu geraten haben,
habe ich dieses Buch nicht für Sie, die Eltern, geschrieben. Ich habe es für Teenager geschrieben, weil ich mir
wünschte, dass jemand für mich als Teenager so ein Buch geschrieben hätte. Ich
habe es für Teenager geschrieben, weil ich aufgrund meiner Erinnerungen und
Erfahrungen auf dem Standpunkt stehe, dass Teenager ebenso vollwertige Menschen
sind wie Erwachsene. Ich habe es für Teenager geschrieben, weil es meiner
Meinung nach einen geradezu erschreckenden Mangel an respektvoller, ernsthafter
Sachliteratur für Teenager gibt. Kurz gesagt, habe ich es für Teenager
geschrieben, weil sie die Fachleute für ihr eigenes Leben sind.“
In
Ergänzung zu diesen Worten möchte ich eigene Beobachtungen hinzufügen aus
meinem beruflichen Kontext, in dem mir viele sich sorgende, unsichere und
klagende Eltern, Lehrer und Erzieher begegnen: Meiner Meinung nach gibt es
einen geradezu erschreckenden Mangel an Respekt vor den jungen Menschen selbst
– vor ihren ausdrücklichen Willensbekundungen und ihrem kreativen Potenzial und
Interesse daran, sich selbstbestimmt den Herausforderungen des Lebens zu
stellen; und nicht zuletzt: ein bedauernswerter Mangel an Respekt vor ihrer
angeborenen Fähigkeit, sich zu bilden. (Der Tenor der GHEC bildet diesbezüglich
keine Ausnahme, oder? Wurden die Erkenntnisse und Erfahrungen schulfrei sich
bildender junger Menschen genutzt, um eben diese dem Menschen angeborene
Fähigkeit zu verdeutlichen? Oder sollte lediglich damit bewiesen werden, dass
Eltern mindestens genauso gut wie der Staat, beziehungsweise sogar besser in
der Lage sind, ihre Kinder zu bilden?) Diese Ignoranz – sei sie aus
Unwissenheit, Bequemlichkeit, Angst und fehlendem Mut oder anderen Gründen – bricht
mir das Herz und ich frage mich: Wer verteidigt eigentlich die Freiheit und
Würde junger Menschen, wenn es nicht die Eltern tun und der Staat schon gar
nicht?
Ich
war bestürzt darüber, dass eine Person, die Grace Llewellyns Buch nicht nur
gelesen, sondern auch sich entschieden hat, dieses zu verbreiten, offensichtlich
nicht willig oder fähig ist, sich für die Freiheit des jungen Menschen und seines Rechts, sich frei zu bilden,
einzusetzen. Mögen die Menschen, die dagegen genau dies wollen, zusammenkommen,
um eben diese Freiheit wirklich zum Leben zu erwecken…
Franziska Klinkigt
Quellen
(2) In diesem Sinne formulierte bereits
1975 Richard Farson in seinem grundlegenden Buch "Menschenrechte für
Kinder - die letzte Minderheit" den Satz: "Wir sollten umdenken und
nicht mehr die Kinder, sondern ihre Rechte schützen".
Farson, Richard. Menschenrechte für Kinder. Die letzte Minderheit.
München: Desch, 1975, S.115 (Orig.: Birthrights. New York & London:
Macmillan, 1974).
(6) Wherefore
we now,
1. Condemn the
policies of those nations that prohibit the practice of home education and
permit the persecution of home educating families through excessive or coercive
fines, threats to parental custody and application of criminal sanctions;
2. Urge all members
of the international community to take concrete steps to affirm in their law,
policy, and civil and criminal procedures that parents have a natural and
fundamental right to direct the education and upbringing of their children
which includes the right to choose the type of education their child shall
receive including home education;
3. Encourage states
to consider the growing body of research about home education and take steps to
review laws, policies and procedures to make it possible for all parents to
participate in this activity;
4. Urge the
assistance of human rights bodies, governments, NGOs, elected and appointed
government officials and individual citizens to seek greater respect for the
fundamental right of parents to choose the kind of education their children receive
including home education;
5. Request the global
home education community take active steps to communicate this resolution to
their governments and to take all steps necessary to recognize the right of families
to home education as a non-derogable and fundamental human right regardless of
the motivation or methodology of those who chose it;
6. Commit to support
freedom, diversity and pluralism in education through formal and informal
coordination with the goal of making home education a legitimate educational
option in every nation and the right of every family and child.
(7) http://www.thenewamerican.com/world-news/europe/item/13503-homeschoolers-flee-persecution-in-germany-and-sweden:
“Also at the workshop on homeschooling in exile was Dagmar Neubronner, a German
home educator and civil rights activist who became the face of the secular
home-education movement in Germany’s press. When she took the microphone and
began talking, it took her a few moments to stop sobbing. But her story of
standing up for her children and their education despite having to flee her
homeland clearly inspired the attendees.”
(10) Während
die Zahl der krippenbefürwortenden Eltern steigt, begegnet mir kaum eine
Erzieherin, die nicht zugibt, dass diese kleinen Kindern „gar nicht hier hergehören“.
Die Erzieherin eines Waldkindergartens berichtete mir neulich, es gebe Eltern,
die sie energisch an ihren Bildungsauftrag erinnerten – also sollten sie
endlich üben, mit der Schere zu schneiden. Lehrerinnen versuchen oft
vergeblich, Eltern davon abzubringen, ihre Kinder wegen der Hausaufgaben unter
Druck zu setzen. Alternative Schulen, welche versuchen, sich an den
Bedürfnissen der Kinder zu orientieren, scheitern oft, weil die Eltern nicht
mitmachen. Ein Elternpaar erzählte mir, es mache sich Sorgen, da die
Kindergärtnerinnen geäußert hätten, ihr vierjähriger Sohn könne noch nicht so
gut mit Zahlen umgehen. Die Mutter eines 6jährigen Mädchens kam drei Monate
nach der Einschulung besorgt zu mir, da die Lehrerin geraten hatte, abzuklären,
ob die Kleine ADS habe, da sie oft so langsam und verträumt sei. Die deutsche Clonlara-Schule erhält immer häufiger Anrufe von
Jugendlichen, die statt in der Schule sich ausdrücklich ohne Schule bilden wollen – aber ihre Eltern unterstützen
sie nicht, im Gegenteil, ihnen droht nun die Einweisung in eine psychiatrische
Klinik.
(11) In einer
Antwort auf den Leserbrief einer betroffenen jungen Frau schreibt Grace
Llewellyn:
"Mich verfolgt immer noch der Fall eines Mädchens, das mit siebzehn Jahren Feuer und Flamme war, die Schule gegen den Willen ihrer Eltern zu verlassen. Sie war erfüllt von Träumen und Plänen, die mir realistisch und aufregend erschienen. Ein Jahr später schrieb sie mir ernüchtert, es sei 'falsch' gewesen, die Schule zu verlassen und ihrer Familie so viele Schwierigkeiten zu bereiten. Sie fühlte sich schuldig und persönlich für all den Kummer verantwortlich, den ihre Eltern erlitten hatten. Unter der Last dieser Schuld war sie nicht imstande gewesen, genug Energie aufzubringen, um die Träume und Pläne zu verwirklichen, die sie ursprünglich so begeistert hatten. Diese Nachricht traf mich hart - warum betrachtete sie es als ihre Schuld und ihren Fehler und nicht als tragische Engstirnigkeit ihrer Eltern? Ungewollt war ich wütend auf ihre Eltern die durch ihre Ignoranz die Träume ihrer Tochter zum Einsturz gebracht hatten. Ihre Geschichte zeigte mir jedoch, dass in manchen Familien der Preis für den 'Ungehorsam' der Kinder zu hoch ist."
"Mich verfolgt immer noch der Fall eines Mädchens, das mit siebzehn Jahren Feuer und Flamme war, die Schule gegen den Willen ihrer Eltern zu verlassen. Sie war erfüllt von Träumen und Plänen, die mir realistisch und aufregend erschienen. Ein Jahr später schrieb sie mir ernüchtert, es sei 'falsch' gewesen, die Schule zu verlassen und ihrer Familie so viele Schwierigkeiten zu bereiten. Sie fühlte sich schuldig und persönlich für all den Kummer verantwortlich, den ihre Eltern erlitten hatten. Unter der Last dieser Schuld war sie nicht imstande gewesen, genug Energie aufzubringen, um die Träume und Pläne zu verwirklichen, die sie ursprünglich so begeistert hatten. Diese Nachricht traf mich hart - warum betrachtete sie es als ihre Schuld und ihren Fehler und nicht als tragische Engstirnigkeit ihrer Eltern? Ungewollt war ich wütend auf ihre Eltern die durch ihre Ignoranz die Träume ihrer Tochter zum Einsturz gebracht hatten. Ihre Geschichte zeigte mir jedoch, dass in manchen Familien der Preis für den 'Ungehorsam' der Kinder zu hoch ist."
Ich frage mich, was muss
geschehen, damit es nicht mehr als ‚Ungehorsam‘ angesehen wird, wenn ein Mensch
seinen Weg geht?
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