Und jedem Ende wohnt der Zauber eines möglichen Anfangs inne

In der Info-Rundmail des „Netzwerk Bildungsfreiheit“ kurz nach der GHEC ermutigt Jörg Großelümern alle, die „sich konstruktiv in den weiteren Prozess für Bildungsfreiheit einbringen wollen“, sich bei ihm zu melden. Er fügt hinzu: „Entscheidend ist nicht was Sie/Ihr politisch, weltanschaulich, pädagogisch sonst so denkt und vertretet, sondern der Konsens, dass die Eltern und nicht der Staat das letzte Wort bei Bildung und Erziehung der Kinder haben soll. Natürlich sollte jeder, der mitmachen möchte, die Toleranz mitbringen, die er/sie für sich selbst auch erwartet.“

Ich hoffe, mit meiner Reflektion darzustellen, dass dieser Einladung eine inhaltliche Unwahrheit innewohnt: Ist nicht die politische, weltanschauliche, pädagogische Sichtweise selbstverständlich entscheidend? Beruht der gewünschte Konsens denn nicht auf der unwidersprüchlichen Ansicht, derzufolge der junge Mensch als Objekt betrachtet wird – ein Objekt, das es zu erziehen gilt und über dessen Bildung jemand anders zu entscheiden hat? Kann man es anders als „weltanschaulich“ nennen, dass Menschen aufgrund ihres Alters bzw. ihrer Jugend und eines damit verbundenen Status‘ als „minderjähriges Kind“ es nicht wert sein sollen, dass man ihre Rechte vertritt – und eben nicht die Rechte derjenigen, die für sie entscheiden oder gar über sie bestimmen wollen? Und warum soll überdies die pädagogische Sichtweise unwichtig sein? Ist es etwa nicht von Bedeutung, dass gewisse pädagogische Maßnahmen auch dann die Würde des Kindes verletzen und der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit mehr ab- als zuträglich sind, wenn Eltern und nicht der Staat diese anwenden?

Da suggeriert wird, niemand, der nicht den entsprechenden Konsens vertritt, wolle sich in den „Prozess der Bildungsfreiheit“ einbringen – und schon gar nicht konstruktiv – erscheint es mir hier dringend notwendig, einmal ganz klar auf eine wesentliche begriffliche und damit verbundene inhaltliche Unterscheidung hinzuweisen: Da das Anliegen, sich für „Bildungsfreiheit“ zu engagieren, im Zuge der GHEC nun auf eine ganz bestimmte Weise definiert wurde, ist dieses unbedingt zu unterscheiden von dem, sich für das „Grundrecht des Menschen, sich frei zu bilden“ einzusetzen (im Grunde war dies schon immer so, aber nun ist Anlass genug, dies noch einmal deutlich klarzustellen). Bei beiden Anliegen spielen die Eltern eine entscheidende, aber völlig unterschiedliche Rolle. Ist es nicht ein gewaltiger Unterschied, ob Eltern auf ihrem eigenen Recht als Eltern pochen oder ob sie sich für den Schutz der Grundrechte ihrer Töchter und Söhne einsetzen? Das Ansinnen, sich Respekt zu verschaffen vor der eigenen Freiheit, als Eltern nach den eigenen religiösen, moralischen, philosophischen und pädagogischen Anschauungen zu handeln, ist ein grundlegend anderes, als sich dafür einzusetzen, dass die wahren Interessen und Bedürfnisse des Kindes respektiert werden.

Was war das Anliegen der Konferenz? Dagmar Neubronner schrieb vor der GHEC: „Der Konflikt, um den es bei unserer Konferenz geht ist: Liegen die Rechte und Pflichten für den Schutz von Kindern, bis sie ihre Rechte selbst wahrnehmen können, in der Familie, also (schon rein rechtlich gesehen) bei den Eltern - ODER BEIM STAAT???“ (1)

Mir stellt sich unweigerlich die Frage: Schutz von Kindern – vor was oder vor wem? Die Familie will offensichtlich die Kinder vor dem Staat schützen, der Staat hingegen will sie vor der Familie schützen! Da kann ich doch nur sagen: herzlichen Glückwunsch zu dieser Pattsituation! Immerhin sind sich beide Parteien in einem Punkt einig: Kinder können ihre Rechte nicht selbst wahrnehmen! Bedauerlicherweise kommen weder Eltern noch Staat auf die Idee, dass hier im Falle der Kinder deren Grundrechte und nicht sie selbst geschützt werden müssen(2) – obwohl es geradezu eine „heilige Verpflichtung“ des freiheitlich-demokratischen Staates ist, diese Grundrechte gesetzlich zu schützen…

Was geschieht stattdessen? Laut Dagmar Neubronner Folgendes:
„Denn DAS ist die große Bedrohung und Gefahr - der Staat fordert immer vehementer die ‚Lufthoheit über den Kinderbetten‘. Wenn wir diese Tendenz weiter zulassen, dann werden unsere Kinder in Zukunft nicht mehr (sehr unterschiedlichen, aber ganz überwiegend wohlmeinenden und liebevollen) Eltern zugeordnet sein, sondern einer bürokratischen Maschinerie. DAS zu verhindern bzw. den bereits in Form des Schulzwangs bestehenden Zugriff auch in Deutschland endlich zu lockern, ist das Anliegen der Konferenz.“

Wie ist diese Aussage nun zu verstehen? Ich habe dazu zweierlei Ideen:
1. Wenn der Staat entgegen seiner Verpflichtung, die Grundrechte aller Menschen zu schützen, sich ihrer quasi zu bemächtigen und sie einer bürokratischen Maschinerie zu unterwerfen versucht, so sollte dies verhindert werden. Nun würde ich Dagmar Neubronner an dieser Stelle gern fragen: War es das, was Ihr wolltet und stimmt das, was Ihr getan habt, damit überein? Habt Ihr Euch als Eltern dafür eingesetzt, dass die Grundrechte Eurer Kinder geschützt werden bzw. habt Ihr Euch gegen die Missachtung der Grundrechte Eurer Kinder ausgesprochen?
2. Oder war vielleicht das entscheidende Anliegen, sich die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ nicht nehmen zu lassen, sich also das Vorrecht auf Erziehung und Bildung der Kinder zurück zu erobern? Ging es somit um einen Machtkampf um die Erziehungs- bzw. Bildungsherrschaft? Auch hier möchte ich wieder die Frage stellen: Stimmt das Ergebnis der GHEC mit diesem Ziel überein?

Schauen wir uns das Ergebnis der GHEC 2012 an: Eine im Namen aller Teilnehmenden ausgesprochene Resolution, “The Berlin Declaration, the first of its kind”(3), wie es im „The New American“(4) heißt (übrigens nicht zu verwechseln mit der – vielleicht unbekannten, vielleicht vergessenen – „Berlin Declaration of Freedom in Education“ aus dem Jahre 2008(5)). Auf zwei der darin beschlossenen sechs Punkte(6) möchte ich kurz eingehen: 

„Wherefore we now,
(…) 2. Urge all members of the international community to take concrete steps to affirm in their law, policy, and civil and criminal procedures that parents have a natural and fundamental right to direct the education and upbringing of their children which includes the right to choose the type of education their child shall receive including home education”

War das Ziel der GHEC nun Bildungsfreiheit oder Erziehungsfreiheit? Könnte der in den Vordergrund gerückte Anspruch auf freie Bildung nicht als Alibi für die elterliche Erziehungsmacht missbraucht werden? Ich bin gespannt, wie die offizielle deutsche Übersetzung von „home education“ lauten wird, da dieser Begriff gar nicht eindeutig übersetzt werden kann. Meines Erachtens ist es an sich nicht entscheidend, wie dieser Begriff nun definiert wird (ob als „Bildung zu Hause“, „Freilernen“, „Hausunterricht“, „Homeschooling“, „Unschooling“, „schulfreies Lernen“ oder sonstwie), sondern wer ihn definiert! Die zitierte Forderung in der „Berlin Declaration“ macht nicht nur deutlich, dass hier die Eltern die Definitionsmacht für sich beanspruchen; unverkennbar ist hier auch, dass Kinder unhinterfragt als Objekte angesehen werden, denen eine von Eltern gelenkte, geleitete, angeordnete Bildung und Erziehung zuteilwerden soll. Ist dies nun im Sinne der Grundrechte ihrer Kinder? Ganz sicher doch nicht, denn ist es nicht gegen die Würde eines jeden Menschen, zum Erziehungsobjekt degradiert zu werden?

“5. Request the global home education community take active steps to communicate this resolution to their governments and to take all steps necessary to recognize the right of families to home education as a non-derogable and fundamental human right regardless of the motivation or methodology of those who chose it“

Wie ist das nun zu verstehen? Das Recht von „Familien“ auf „home education“ soll anerkannt werden „als ein nicht einzuschränkendes und grundsätzliches Menschenrecht, ungeachtet der Motivation oder Methode derer, die diese (Form der Bildung) gewählt haben“? Eine Familie besteht aus mehreren Personen, deren Interessen und Grundbedürfnisse grundverschieden sein können. Wessen Interesse soll denn im Vordergrund stehen? Wessen Bedürfnisse sollen erfüllt werden? Auf diese Fragen hatte Dagmar ja schon vor der GHEC eine Antwort:

„Wie die Verantwortlichkeiten innerhalb der Familie verteilt sein sollen, wie jeder von uns mit Kindern leben will, darüber können wir uns austauschen, diskutieren, streiten, wenn gesichert ist, dass wir als Eltern überhaupt die Möglichkeit haben, Entscheidungen zu treffen, z.B. unsere Kinder demokratisch-selbstbestimmt, vegan, unerzogen, schulfrei, wie-auch-immer leben zu lassen.“

Beim Lesen dieser Aussage musste ich echt schlucken! Ist die Degradierung des Kindes zum Erziehungsobjekt, dessen Wohlergehen davon abhängig sein soll, wie wohlmeinend und liebevoll es nun leben gelassen wird, weniger entwürdigend, wenn sie durch Eltern erfolgt statt durch einen übergriffigen Staat? Nebenbei bemerkt ist wohlmeinend nicht unbedingt wohltuend, und die Tatsache, dass Eltern sich als liebevoll empfinden, bedeutet nicht unbedingt, dass die Kinder sie auch als liebevoll wahrnehmen. Wer hat das Recht zu entscheiden, was er oder sie essen will? Wer soll entscheiden dürfen, ob er oder sie in die Schule gehen will? Sollen Eltern ihr Kind auch gegen dessen Willen einer häuslichen Beschulung unterziehen dürfen?

Mich beunruhigt in besonderem Maße die Erkenntnis, dass hier anscheinend im Sinne eines Wunsches nach Konsens entscheidende menschliche und freiheitlich-demokratische Werte über den Haufen geworfen wurden und werden.

„Es geht darum, die Kinder vor dem Zugriff einer überbordenden Institutionalisierung und Verplanung durch den Staat zu bewahren, und für dieses Ziel arbeite ich mit allen Menschen zusammen, die dasselbe Ziel haben“, schrieb Dagmar Neubronner in ihrer Stellungnahme.

Und ist die GHEC ihrem Ziel näher gekommen? Hat sie die konkrete, unmissverständliche und kompromisslose Forderung aufgestellt, dass jegliche Übergriffe auf die Würde und die Freiheit des jungen Menschen vom Staat zu unterlassen sind? Habt Ihr den Staat vielmehr daran erinnert, dass er eben diese gesetzlich verankerten Menschenrechte (die als Abwehrrechte den Menschen vor eben solchen Übergriffen schützen sollen) bedingungslos zu schützen sich verpflichtet hat? Oder habt Ihr im Sinne eines Konsens das eigentliche Anliegen – und ich bezweifle, dass dieses je wirklich bestanden hat – geopfert, nämlich den Respekt vor der Würde Eurer Kinder zu fordern? Geopfert für was? Für ein Ansinnen, welches – aus leidiger Erfahrung – bedauerlicherweise zum Scheitern verurteilt ist! Warum soll man versuchen, mit dem Kopf durch die Wand zu laufen, wenn daneben die Tür ist (auch wenn dies mit mehreren Menschen gemeinsam vielleicht nicht ganz so einsam ist)?

Für Elternrechte zu kämpfen ist schon allein aus dem Grunde zum Scheitern verurteilt, weil es aus einer Opferrolle heraus geschieht. Könnte die GHEC den Rahmen geboten haben, diese Opferrolle zu zelebrieren? Zumindest erscheint es so, wenn man dem „The New American“ Glauben schenken mag(7). Sich als Opfer zu fühlen ist schon deshalb nicht ratsam, weil die damit verbundenen Ängste und Gefühle von Hilflosigkeit die Sicht auf gewisse Tatsachen komplett vernebeln und den Fokus auf das, worum es eigentlich gehen sollte, unmöglich machen. Dagmar Neubronners Kommentar zeigt dies mehr als deutlich:  

„Auch wenn sie ihre Kinder in ganz anderer Weise erziehen als ich, ihnen ganz andere Werte vermitteln und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern anders definieren – diese (großen! Da bin ich völlig mit dir einig!) Unterschiede sind angesichts der wirklich riesigen Bedrohung durch Staat, EU etc. zweitrangig.“

Nein!!! Es ist genau umgekehrt! Ein bedrohlicher Staat wird in verhängnisvoller Weise in den Fokus gerückt, und der eigentlich entscheidende Aspekt als „zweitrangig“ in den Hintergrund geschoben. Denn: Wer ist das eigentlich, „der Staat“? Sind wir das nicht alle?! Und was soll das heißen, Eltern müssten erst einmal „überhaupt die Möglichkeit haben, Entscheidungen zu treffen“? Treffen Eltern nicht am laufenden Band Entscheidungen – aber was für welche? Treffen sie Entscheidungen, die wirklich im Sinne ihrer Kinder sind? Genau genommen ist es sogar von zentraler Bedeutung, wie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern definiert ist – und wie überhaupt „Kind“ definiert ist.

In Bezug auf Eltern ist es berechtigt zu fragen: Können oder vielmehr wollen einstige „Kinder“, welche an das Konzept einer „Kindheit“ glauben, sich der damit verbundenen Konsequenzen bewusst sein oder werden? Ein Konzept, welches viele der angeborenen Kompetenzen des Menschen in seinen ersten Lebensjahren verneint – wie sein von Natur aus bestehendes Bedürfnis und die Fähigkeit, sich zu bilden – und ihn daher nicht gleichermaßen als Mensch respektiert und ernstnimmt? Ein Konzept, welches die als „Kinder“ gehaltenen Menschen in einer regelrechten Unfreiheit gefangen hält? Daher nochmal die Frage: Können oder wollen Menschen, die an dieses Konzept glauben, für die (Bildungs-)Freiheit ihrer Kinder eintreten? Und eine Freiheit wovon soll das sein? Von einem Beschulungszwang durch den Staat, nicht aber von, wenn nicht Zwang, so zumindest einer Absicht zur Beschulung und Erziehung durch die Eltern?

Sosehr ich für die Notwendigkeit einer gesunden Bindung eines Kindes an seine Familie plädiere, sosehr graust es mir bei dem Gedanken an „Eltern“ (ich spreche hier allgemein von Menschen in einer Rolle der Eltern oder Funktion als Eltern und möchte damit niemanden im Speziellen ansprechen oder gar angreifen), wenn ich an die vielen mir begegneten Eltern denke, die in vehementer, gar brutaler Art und Weise Druck auf ihre Kinder ausüben, weil für sie deren gute Leistung und Erfolg wichtiger sind als Glück oder freie Persönlichkeitsentfaltung. Natürlich steckt dahinter meist Angst und Unsicherheit, gibt es doch unter Eltern eine neuartige „Krankheit“ namens „Bildungspanik“. Verunsicherte Eltern verlassen sich lieber auf so manche „Experten“ oder hören auf ein in ihrer Angst verwurzeltes Kontrollbedürfnis. Sie unterziehen ihre Kinder allen möglichen Fördermaßnahmen oder lassen sie gar medikamentös behandeln – anstatt in die gesunden Reaktionen ihrer Kinder zu vertrauen und wirklich in ihrem Sinne zu handeln.

Da oft auf die „vorbildlichen“ Länder ohne Schulanwesenheitszwang verwiesen wird, in denen mehr „Bildungsfreiheit“ herrscht, möchte ich etwas Weiteres in Bezug auf Eltern ergänzen (abgesehen davon, dass wir uns auch einmal die schulischen Zustände dieser Länder anschauen könnten): Im diesbezüglich liberalsten Großbritannien vertraten der Umfrage eines britischen Meinungsforschungsinstituts im Jahre 2011 zufolge 49 Prozent der Eltern die Meinung, an den Schulen solle die Prügelstrafe wieder eingeführt werden(8). In Österreich gibt es eine Kindergartenpflicht, mit welcher die meisten Eltern weitestgehend einverstanden zu sein scheinen! In 19 US-Bundesstaaten ist das Prügeln (mit Paddeln!) an Schulen legal (allerdings darf es dort „keine Prügelstrafe ohne Einwilligung der Eltern geben“(9) – der Respekt vor dem Elternrecht ist also in der Tat höher angesiedelt als bei uns!).

Und hier in Deutschland? Hier herrschen Bedingungen, unter denen Eltern – aus den verschiedensten Gründen, die es geben kann – nicht gewillt oder in der Lage sind oder den Mut haben, die Würde ihrer Kinder zu schützen und im Sinne der Bedürfnisse eben ihrer Kinder zu handeln(10). Aber ist dies im „Land der Freiheit“ wirklich anders? Bei der amerikanischen Autorin Grace Llewellyn, welche das von Dagmar Neubronner in Deutschland herausgegebene „Teenager Befreiungs Handbuch“ geschrieben hat, finde ich eine beunruhigende Antwort auf die Frage, was genau die hochgepriesene Errungenschaft „Bildungsfreiheit“ dort bedeutet:

"Die schwierigsten Briefe (…) stammen von Teenagern, die sich verzweifelt danach sehnen, die Schule zu verlassen und schon alle Taktiken angewendet haben, die ich in Kapitel 10 'Das möglicherweise heikle Thema Eltern' angeführt habe, und deren Eltern ihnen den Schulaustritt dennoch verweigern. Da sich zweifellos viele Teenager in dieser Lage befinden, macht es mich wütend, dass junge Menschen nicht mehr rechtliche Kontrolle über ihr Leben haben. Oft erstaunt mich die Kraft und Kreativität, die aus diesen Briefen spricht und in der sich die Entschlossenheit der Schreiber widerspiegelt, gesund zu bleiben und sich weiterzuentwickeln, obwohl sie weiter zur Schule gehen müssen."(11)

Kann es traurig aber wahr sein, dass junge Menschen im „Land der Bildungsfreiheit“ letztlich genauso wenig frei sind, ihre Bildung in ihrem eigenen Sinne zu gestalten, wie in unserem Land – oder wie vielleicht in jedem Land, in dem das Elternrecht auf Erziehung hochgehalten wird? Aufgrund dieser berechtigten Befürchtung kann ich mich nicht ruhigen Gewissens dem Appell an den Schutz des Elternrechts als einem „nichteinzuschränkenden und grundsätzlichen Menschenrecht“ anschließen. Die im Grundgesetz verankerten Rechte der Person, welche an keine Bedingungen geknüpft sind, sind bedingungslos zu schützen vor jeglichen Übergriffen, egal von wem sie kommen.   

Ist es nicht so, dass an der Stelle, an der eine dringend notwendige (und längst überfällige) Grundsatzdiskussion zum Thema freie Bildung hätte stehen müssen, nun die Global Home Education Conference 2012 stand, deren Motive uns glauben machten, dass etwas Grundsätzliches in der Angelegenheit der „Bildungsfreiheit“ – ja, ich würde sagen, das Wesentliche überhaupt! – nebensächlich und unwichtig sei? Ist es verwunderlich, dass die Menschen, die genau dieses ansprachen, als frontenschaffende Unruhestifter angesehen wurden und werden? Dass diejenigen, denen es wirklich und ohne Umwege und in der Tat kompromisslos um die Person des jungen Menschen und dessen Recht auf freie Bildung geht, nun beschuldigt werden, die Lager zu spalten?

„The New American“ zitiert Dagmar Neubronner folgendermaßen: “’It is very important that we connect with each other, and don't lose our loyalty to each other, and not split into groups. This is very, very important.’ The global home education movement must emphasize what it has in common and support its persecuted members, she concluded.”(12)

Eine solche Aussage suggeriert, es gebe Gemeinsamkeiten hinsichtlich der grundsätzlichen Ziele und alle Unterschiede seien unwichtig und nebensächlich. Sie appelliert an das Zusammengehörigkeitsgefühl und weckt die Hoffnung, man könne alles erreichen, aber nur, wenn alle zusammenhalten. Musste es da nicht zwangsläufig zu einer Spaltung kommen zwischen denen, die sich kritiklos dieser Gruppe anschlossen und denen, die das nicht taten?

Nachdem nun die GHEC vorbei ist und die „Berlin Declaration“ im Namen aller Teilnehmenden verabschiedet wurde, frage ich mich, ob tatsächlich alle, die an der Konferenz teilnahmen, dieser historischen Verlautbarung zustimmten.

“To start with, the declaration was signed by the entire GHEC board. However, as the document was unveiled in front of a packed conference room with close to 200 people from some two dozen countries, GHEC Chairman Himmelstrand said the goal was to continue gathering signatures and support from organizations and individuals around the world, using the document to keep the pressure on hostile governments. The room erupted in applause.“(13)

Sind sich also alle einig, es müsse einen Kampf geben zwischen Eltern und Staat und der richtige Weg sei es, „Druck“ auszuüben? Sind demnach alle Dagmar Neubronners Aufruf gefolgt?

„In diesem Sinne: Lasst uns über unsere unterschiedlichen Ansichten über das Leben mit Kindern gerne diskutieren, aber lasst uns auf der GHEC2012 gemeinsam einstehen für das Recht der Eltern VOR dem Recht des Staates. Wenn wir diese Rechte haben, können diejenigen von uns, die das wollen, sie an ihre Kinder übertragen und sich dafür einsetzen, dass ihre Sichtweise sich verbreitet.“(14)

Ist hier durch den Wunsch, auf das vermeintlich Gemeinsame zu fokussieren und einen Konsens zu schaffen, das eigentlich Wichtige aus dem Blick geraten? Wie wesentlich ist das Recht des Menschen, über seine Bildung selbst zu bestimmen – da es seine natürliche und angeborene Begabung ist, sich bilden zu wollen und zu können, jederzeit? Und teilen wirklich alle, die sich für „Bildungsfreiheit“ einsetzen, die Vorstellung, das Menschenrecht sich frei zu bilden stehe Kindern nur zu, wenn Eltern bereit sind, es ihnen zu übertragen?

Ich erinnere mich an meine spontane Reaktion, als ich einst von dem Anliegen der GHEC erfuhr: meine tiefe Erschütterung, die mich dazu bewogen hatte, mich so kritisch zu äußern. Diese begründete sich durch ganz persönliche Erfahrungen, nicht zuletzt die Entscheidende für den Beginn meines Engagements für „Bildungsfreiheit“. Ich war Dagmar Neubronner bisher zutiefst dankbar gewesen, dass sie das „Teenager Befreiungs Handbuch“ hier in Deutschland herausgegeben hatte, denn das Lesen dieses Buches öffnete mir Herz und Augen. Ich dachte: Endlich ein Buch adressiert an diejenige, um die es beim Thema Bildung gehen muss – die Person selbst! Aber ich kann es eigentlich nicht besser ausdrücken als die Autorin persönlich in ihrem Vorwort an die Eltern:

„Obwohl mir viele dazu geraten haben, habe ich dieses Buch nicht für Sie, die Eltern, geschrieben. Ich habe es für Teenager geschrieben, weil ich mir wünschte, dass jemand für mich als Teenager so ein Buch geschrieben hätte. Ich habe es für Teenager geschrieben, weil ich aufgrund meiner Erinnerungen und Erfahrungen auf dem Standpunkt stehe, dass Teenager ebenso vollwertige Menschen sind wie Erwachsene. Ich habe es für Teenager geschrieben, weil es meiner Meinung nach einen geradezu erschreckenden Mangel an respektvoller, ernsthafter Sachliteratur für Teenager gibt. Kurz gesagt, habe ich es für Teenager geschrieben, weil sie die Fachleute für ihr eigenes Leben sind.“

In Ergänzung zu diesen Worten möchte ich eigene Beobachtungen hinzufügen aus meinem beruflichen Kontext, in dem mir viele sich sorgende, unsichere und klagende Eltern, Lehrer und Erzieher begegnen: Meiner Meinung nach gibt es einen geradezu erschreckenden Mangel an Respekt vor den jungen Menschen selbst – vor ihren ausdrücklichen Willensbekundungen und ihrem kreativen Potenzial und Interesse daran, sich selbstbestimmt den Herausforderungen des Lebens zu stellen; und nicht zuletzt: ein bedauernswerter Mangel an Respekt vor ihrer angeborenen Fähigkeit, sich zu bilden. (Der Tenor der GHEC bildet diesbezüglich keine Ausnahme, oder? Wurden die Erkenntnisse und Erfahrungen schulfrei sich bildender junger Menschen genutzt, um eben diese dem Menschen angeborene Fähigkeit zu verdeutlichen? Oder sollte lediglich damit bewiesen werden, dass Eltern mindestens genauso gut wie der Staat, beziehungsweise sogar besser in der Lage sind, ihre Kinder zu bilden?) Diese Ignoranz – sei sie aus Unwissenheit, Bequemlichkeit, Angst und fehlendem Mut oder anderen Gründen – bricht mir das Herz und ich frage mich: Wer verteidigt eigentlich die Freiheit und Würde junger Menschen, wenn es nicht die Eltern tun und der Staat schon gar nicht?

Ich war bestürzt darüber, dass eine Person, die Grace Llewellyns Buch nicht nur gelesen, sondern auch sich entschieden hat, dieses zu verbreiten, offensichtlich nicht willig oder fähig ist, sich für die Freiheit des jungen Menschen und seines Rechts, sich frei zu bilden, einzusetzen. Mögen die Menschen, die dagegen genau dies wollen, zusammenkommen, um eben diese Freiheit wirklich zum Leben zu erwecken…

Franziska Klinkigt



Quellen
(2)   In diesem Sinne formulierte bereits 1975 Richard Farson in seinem grundlegenden Buch "Menschenrechte für Kinder - die letzte Minderheit" den Satz: "Wir sollten umdenken und nicht mehr die Kinder, sondern ihre Rechte schützen".
Farson, Richard. Menschenrechte für Kinder. Die letzte Minderheit. München: Desch, 1975, S.115 (Orig.: Birthrights. New York & London: Macmillan, 1974).
(6)   Wherefore we now,
1. Condemn the policies of those nations that prohibit the practice of home education and permit the persecution of home educating families through excessive or coercive fines, threats to parental custody and application of criminal sanctions;
2. Urge all members of the international community to take concrete steps to affirm in their law, policy, and civil and criminal procedures that parents have a natural and fundamental right to direct the education and upbringing of their children which includes the right to choose the type of education their child shall receive including home education;
3. Encourage states to consider the growing body of research about home education and take steps to review laws, policies and procedures to make it possible for all parents to participate in this activity;
4. Urge the assistance of human rights bodies, governments, NGOs, elected and appointed government officials and individual citizens to seek greater respect for the fundamental right of parents to choose the kind of education their children receive including home education;
5. Request the global home education community take active steps to communicate this resolution to their governments and to take all steps necessary to recognize the right of families to home education as a non-derogable and fundamental human right regardless of the motivation or methodology of those who chose it;
6. Commit to support freedom, diversity and pluralism in education through formal and informal coordination with the goal of making home education a legitimate educational option in every nation and the right of every family and child.
(7)   http://www.thenewamerican.com/world-news/europe/item/13503-homeschoolers-flee-persecution-in-germany-and-sweden: “Also at the workshop on homeschooling in exile was Dagmar Neubronner, a German home educator and civil rights activist who became the face of the secular home-education movement in Germany’s press. When she took the microphone and began talking, it took her a few moments to stop sobbing. But her story of standing up for her children and their education despite having to flee her homeland clearly inspired the attendees.”
(10) Während die Zahl der krippenbefürwortenden Eltern steigt, begegnet mir kaum eine Erzieherin, die nicht zugibt, dass diese kleinen Kindern „gar nicht hier hergehören“. Die Erzieherin eines Waldkindergartens berichtete mir neulich, es gebe Eltern, die sie energisch an ihren Bildungsauftrag erinnerten – also sollten sie endlich üben, mit der Schere zu schneiden. Lehrerinnen versuchen oft vergeblich, Eltern davon abzubringen, ihre Kinder wegen der Hausaufgaben unter Druck zu setzen. Alternative Schulen, welche versuchen, sich an den Bedürfnissen der Kinder zu orientieren, scheitern oft, weil die Eltern nicht mitmachen. Ein Elternpaar erzählte mir, es mache sich Sorgen, da die Kindergärtnerinnen geäußert hätten, ihr vierjähriger Sohn könne noch nicht so gut mit Zahlen umgehen. Die Mutter eines 6jährigen Mädchens kam drei Monate nach der Einschulung besorgt zu mir, da die Lehrerin geraten hatte, abzuklären, ob die Kleine ADS habe, da sie oft so langsam und verträumt sei. Die deutsche Clonlara-Schule erhält immer häufiger Anrufe von Jugendlichen, die statt in der Schule sich ausdrücklich ohne Schule bilden wollen – aber ihre Eltern unterstützen sie nicht, im Gegenteil, ihnen droht nun die Einweisung in eine psychiatrische Klinik.
(11)  In einer Antwort auf den Leserbrief einer betroffenen jungen Frau schreibt Grace Llewellyn:
"Mich verfolgt immer noch der Fall eines Mädchens, das mit siebzehn Jahren Feuer und Flamme war, die Schule gegen den Willen ihrer Eltern zu verlassen. Sie war erfüllt von Träumen und Plänen, die mir realistisch und aufregend erschienen. Ein Jahr später schrieb sie mir ernüchtert, es sei 'falsch' gewesen, die Schule zu verlassen und ihrer Familie so viele Schwierigkeiten zu bereiten. Sie fühlte sich schuldig und persönlich für all den Kummer verantwortlich, den ihre Eltern erlitten hatten. Unter der Last dieser Schuld war sie nicht imstande gewesen, genug Energie aufzubringen, um die Träume und Pläne zu verwirklichen, die sie ursprünglich so begeistert hatten. Diese Nachricht traf mich hart - warum betrachtete sie es als ihre Schuld und ihren Fehler und nicht als tragische Engstirnigkeit ihrer Eltern? Ungewollt war ich wütend auf ihre Eltern die durch ihre Ignoranz die Träume ihrer Tochter zum Einsturz gebracht hatten. Ihre Geschichte zeigte mir jedoch, dass in manchen Familien der Preis für den 'Ungehorsam' der Kinder zu hoch ist."
Ich frage mich, was muss geschehen, damit es nicht mehr als ‚Ungehorsam‘ angesehen wird, wenn ein Mensch seinen Weg geht?

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